Marc Chagall - Selbstbildnis

Im Mai 1914 reiste Chagall von Paris nach Berlin, wo ihm der Kunsthändler Herwarth Walden in der Galerie «Der Sturm» seine erste Einzelausstellung ausrichtete. Chagall entwickelte sich in den vergangenen vier Jahren in Paris im Spannungsfeld von Fauvismus, Kubismus und Orphismus zu einem modernen Maler. Nach Eröffnung seiner Ausstellung in Berlin setzte er die Reise nach Witebsk fort, mit der Absicht, seine Familie und seine Braut, Bella Rosenfeld, zu besuchen. Was als dreimonatiger Abstecher in seine Heimat geplant war, zog sich infolge des soeben ausgebrochenen Krieges auf unabsehbare Zeit in die Länge. Während der acht Jahre die Chagall in Russland verbringen musste setzte er sich vermehrt mit seiner familiären Herkunft, den jüdischen Wurzeln und mit seiner Rolle als Künstler auseinander. Noch im Jahr 1914 entstanden gleich mehrere Selbstbildnisse. Geschult an der klassischen Porträtdarstellung stellte sich Chagall zum Teil als selbstbewusster Maler mit seinen Insignien, Palette, Pinsel und Staffelei dar. In einigen Fällen verzichtete er auf diese Malerrequisiten und konzentrierte sich auf die Nahsicht seines Gesichtes. In Selbstbildnis der Sammlung Im Obersteg verschränkt sich mit diesem Aspekt der Selbstbefragung auch jener der Maskerade. Der Maler hat sich für dieses Konterfei wohl geschminkt, wie er dies gelegentlich zu tun pflegte. Schalk und zurückhaltende Skepsis schlagen uns aus den zu Schlitzen reduzierten, fremdartigen Augen und dem rötlich geschminkten, suffisant lächelnden Mund entgegen. Die Gesichtszüge des über einen langgezogenen Hals sich nach rechts neigenden Hauptes des Künstlers wirken weiblich. Der blasse Teint und die von einem irreal anmutenden Licht durchflutete lockige Haartracht betonen die geheimnisvolle Aura dieses Kopfes. Ein leuchtendes Kobaltblau hinterfängt weite Bereiche des formatsprengenden Antlitzes. Nach unten schliesst sich der weisse zum Teil gelb leuchtende Kragen eines grünen Clownhemdes an. Die Vereinfachung und Sprengung der Formen wie auch die kräftigen Farbakzente sind auf den Einfluss von Orphismus und Kubismus zurückzuführen und verleihen dem maskenartigen Bildnis eine moderne und unpersönliche Ausstrahlung.

Provenienz

Marc Chagall
A. Kagan-Chabchay, Paris
1936 erworben bei A. Kagan-Chabchay, Paris, von Karl Im Obersteg

Literatur

Einstein 1926
Carl Einstein: Die Kunst des 20. Jahrhunderts, Berlin: Propylaen-Verlag, 1926, Abb. Tafel 34 (Bildnis eines Mannes)

Sélection 1929
Sélection. Chronique de la vie artistique, Heft Nr. 6, April 1929 (Marc Chagall), Beiträge von Paul Fierens, André Le Ridder, Marc Chagall u. a., Anvers (Belgien): Editons Sélection, 1929, Abb. S. 94

Sweeney 1946
James J. Sweeney: Marc Chagall, New York 1946, S. 31, Abb.

Venturi 1956
Lionello Venturi: Chagall (Le goût de notre temps), Genf, Paris, New York: Editions d' Art Albert Skira, 1956, Abb. S. 10

Meyer 1961
Franz Meyer: Marc Chagall. Leben und Werk, Köln: Verlag M. DuMont Schauberg, 1961, S. 221-222, 743, Abb. S. 225

Kamenski 1988
Alexandre Kamenski: Chagall. Periode russe et soviétique 1907-1922, Paris: Editions du Regard, 1988, Abb. S. 152

Baumgartner/von Tavel 1995
Michael Baumgartner und Hans Christoph von Tavel: Die Sammlung Karl und Jürg Im Obersteg, hrsg. von der Stiftung «Sammlung Karl und Jürg Im Obersteg», Bern, Bern: Benteli Verlag, 1995, S. 136-138, Nr. 85, Abb.

Ausstellungen

Basel 1933
Marc Chagall, Kunsthalle Basel 1933, 4. Nov.-3. Dez.1933, Basel 1933, Nr. 35

Zürich 1950/1951
Marc Chagall, Kunsthaus Zürich, 1950-1951, Zürich 1950, Nr. 23

Bern 1975
Sammlung Im Obersteg, bearb. von Hugo Wagner, hrsg. von Kunstmuseum Bern, 25. Juni-14. Sept 1975, Nr. 12, Abb.

Basel 1984/1985
Marc Chagall, Galerie Beyeler, Basel 1984-85, Nr. 18, Abb.

London 1985
Chagall, Royal Academy of Arts, London, 1985, Susan Compton (Hrsg.), London: Merell Holberton, 1985, S. 185, Abb. 38

Bern 1995/96
Marc Chagall 1907-1917, Kunstmuseum Bern, 16.Dez. 1995-28. Feb.1996, bearb. von Sandor Kuthy und Meret Meyer, Bern1995/96, Nr. 17, Abb. S. 41

Wien 2003
Im Banne der Moderne: Picasso, Chagall, Jawlensky, BA-CA Kunstforum, Wien, 4. Sept.-30. Nov. 2003, Nr. 14

Basel 2004
Die Sammlung Im Obersteg im Kunstmuseum Basel. Picasso, Chagall, Jawlensky, Soutine, Kunstmuseum Basel, 14. Febr.-2. Mai 2004, hrsg. von der Stiftung Im Obersteg, Basel: Schwabe Verlag, 2004, Nr. 41

Basel 2017
Chagall. Die Jahre des Durchbruchs 1911-1919, Kunstmuseum Basel, 16.09.2017-21.01.2018, hrsg. von Josef Helfenstein und Olga Osadtschy, Verlag der Buchhandlung Walther König, Köln, 2017, Nr. 110, Abb. S. 249

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