Marc Chagall - Der Jude in Grün

Das Bild ist nach dem Modell eines alten Bettlers und chassidischen Wanderrabbis, den Chagall «Sluzker Maggid» (Prediger von Slusk) nannte, entstanden. Im Unterschied zu den Pariser Bildern, in denen er sich aus der Erinnerung und fast traumartig mit jüdischen Themen auseinandersetzte, bezeichnete Chagall die in Witebsk nach der Wirklichkeit geschaffenen Werke als «Dokumente». Der Bettler ist nahe an die Begrenzung des Bildgevierts gerückt. Er zeigt ein Bild der Armut und der stummen Demut: Sitzt in gebeugter Haltung auf einer hebräischen Schrift, die Hände ruhen ineinander gelegt auf den Knien, der Oberkörper ist mit einem ausgebeulten, mit Flicken versehenen Kaftan bekleidet. Schwer lastet der übergrosse Kopf zwischen den Schultern. Das faltengefurchte, grüne Gesicht wird umspielt von einem gelben Bart und gelben Haarlocken. Die irreale Farbgebung verleiht ihm die Aura von in Meditation versunkener Präsenz. Die rätselhafte Zweifarbigkeit der Hände betont die geistige Dimension, während die schäbige russische Schirmmütze und die ausgebleichte Jacke die Gestalt erneut in der alltäglichen Armseligkeit der Gegenwart beheimaten. Der fromme Jude ist zugleich auch ein alter, müder Mann, der das eine Auge geöffnet, das andere geschlossen im Augenblick des Einschlafens von Chagall gemalt worden ist. Der hebräische Text, der als Folie die Gestalt hinterfängt, weist auf das geistige Fundament und die Aufgabe des «Sluzker Maggid» als Wanderprediger hin, der die religiösen Schriften noch im Halbschlaf vor sich hin zu murmeln scheint. Der Text beinhaltet unter anderem Worte aus einem täglich zu sprechenden Kaddisch-Gebet: «Der da Frieden stiftet in seinen Himmelshöhen, er wird auch Frieden bereiten uns und ganz Israel». Dieser Friedenswunsch steht in Zusammenhang mit der Hoffnung auf ein Ende des Krieges, dessen Ausbruch Chagall in Witebsk überrascht hatte und ihn zu einem unfreiwilligen achtjährigen Aufenthalt in Russland zwang.

Provenienz

1936 eingetauscht beim Künstler gegen das Bild Die Hochzeit, 1910, das Karl Im Obersteg 1927 erworben hatte.

Literatur

Halle 1922
Fannina W. Halle: Marc Chagall, in: Das Kunstblatt, hrsg. von Paul Westheim, 6. Jahrgang (1922), Heft 12, Potsdam 1922, S. 507-517, Abb. S. 517

Salmon 1928
André Salmon: Chagall, Paris 1928, Abb. 13

Sélection 1929
Sélection. Chronique de la vie artistique, Heft Nr. 6, April 1929 (Marc Chagall), Beiträge von Paul Fierens, André Le Ridder, Marc Chagall u. a., Anvers (Belgien): Editons Sélection, 1929, Abb. S. 87 (Le vieux juif)

Schwob 1931
René Schwob: Chagall et l'âme juive, Paris: Editions Roberto A. Corrêa, 1931, Abb. S. 47 (Le vieillard en vert)

Venturi 1956
Lionello Venturi: Chagall (Le goût de notre temps), Genf, Paris, New York: Editions d' Art Albert Skira, 1956, S. 46, Abb. S. 44 (Le rabbin vert)

Erben 1957
Walter Erben: Marc Chagall, München 1957, S. 61, Abb. 16 (Der grüne Rabbiner)

Lassaigne 1957
Jacques Lassaigne: Chagall, Paris 1957, S. 49 (Le Rabbin vert)

Schmalenbach 1957
Werner Schmalenbach: Grosse Meister moderner Malerei, Luzern: Kunstkreis-Verlag, 1957, S. 28, Abb. 32 (Bildnis eines Juden)

Chagall 1959
Marc Chagall, Mein Leben (Übersetzung aus dem Französischen von Lothar Klünner), Stuttgart: Verlag Gerd Hatje, 1959, S. 117-118

Meyer 1961
Franz Meyer: Marc Chagall. Leben und Werk, Köln: Verlag M. DuMont Schauberg, 1961, S. 222, 224, 743, Abb. S. 231

Cassou 1965
Jean Cassou: Chagall, London: Thames and Hudson, 1965, S. 275, Abb. S. 63

Rotermund 1970
Hans-Martin Rotermund: Marc Chagall und die Bibel, Lahr 1970, S. 73, Abb. 17

Bucci 1972
Mario Bucci: Marc Chagall, Luzern 1972, S. 22, Abb. Tafel 15

Haftmann 1972
Werner Haftmann: Marc Chagall, Verlag M.DuMont Schuberg, Köln 1972, S. 92, Nr. 14, Abb. Tafel 14

Christ 1973
Dorothea Christ: Marc Chagall, Bern: Hallwag, 1973, S. 24, Abb. S. 25

Kamenski 1988
Alexandre Kamenski: Chagall. Periode russe et soviétique 1907-1922, Paris: Editions du Regard, 1988, S. 217, Abb. S. 210

Baumgartner/von Tavel 1995
Michael Baumgartner und Hans Christoph von Tavel: Die Sammlung Karl und Jürg Im Obersteg, hrsg. von der Stiftung «Sammlung Karl und Jürg Im Obersteg», Bern, Bern: Benteli Verlag, 1995, S. 138-142, Nr. 86, Abb.

Ausstellungen

Basel 1933
Marc Chagall, Kunsthalle Basel 1933, 4. Nov.-3. Dez.1933, Basel 1933, Nr. 26 (Vieillard en vert)

Zürich 1950/1951
Marc Chagall, Kunsthaus Zürich, 1950-1951, Zürich 1950, Nr. 21 (Rabbiner in Gelb/Grün)

Genf 1953
Marc Chagall, Musée de l'Athénée, Genf 1953, Nr. 3 (Rabbin en jaune et brun)

Genf 1962
Chagall et la Bible, Musée Rath, Genf 1962, Nr. 10, Abb.

Lausanne 1964
Chefs-d'oeuvre des collections suisses de Manet à Picasso, Palais de Beaulieu, Lausanne 1964, Nr. 252, Abb.

Bern 1975
Sammlung Im Obersteg, bearb. von Hugo Wagner, hrsg. von Kunstmuseum Bern, 25. Juni-14. Sept 1975, Nr. 14, Abb.

New York 1976/1977
European Master Paintings from Swiss Collections: Post-Impressionism to World War II, Museum of Modern Art, New York 1976-1977, S. 120, Abb. S. 121

Bern 1995/96
Marc Chagall 1907-1917, Kunstmuseum Bern, 16.Dez. 1995-28. Feb.1996, bearb. von Sandor Kuthy und Meret Meyer, Bern1995/96, S. 164, Nr. 179, Abb. S. 186

Wien 2003
Im Banne der Moderne: Picasso, Chagall, Jawlensky, BA-CA Kunstforum, Wien, 4. Sept.-30. Nov. 2003, Nr. 11

Basel 2004
Die Sammlung Im Obersteg im Kunstmuseum Basel. Picasso, Chagall, Jawlensky, Soutine, Kunstmuseum Basel, 14. Febr.-2. Mai 2004, hrsg. von der Stiftung Im Obersteg, Basel: Schwabe Verlag, 2004, Nr. 38

Basel 2017
Chagall. Die Jahre des Durchbruchs 1911-1919, Kunstmuseum Basel, 16.09.2017-21.01.2018, hrsg. von Josef Helfenstein und Olga Osadtschy, Verlag der Buchhandlung Walther König, Köln, 2017, Nr. 27, Abb. S. 176

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