Pablo Picasso - Buveuse d'absinthe / [recto : Femme dans la loge]

Absinthtrinkerinnen erscheinen in Picassos Zeichnungen und Gemälden der ersten beiden Parisaufenthalte als Figuren der Sucht und des Verfalls mit hageren Körpern, übergrossen Händen, schmalen Lippen. Die Buveuse d’absinthe der Sammlung Im Obersteg, entstand im Herbst 1901 und bezeichnet den Beginn der blauen Periode, die bis 1905 dauerte und von der rosa Periode abgelöst wurde. Picasso greift in seinem Bild auf die Flächenkunst mit schwarzer Konturierung Paul Gauguins zurück. Zum Bildtypus des weiblichen Halbfigurenporträts regten ihn Toulouse-Lautrec und Degas an. Motivisch stehen die zahlreichen Bilder der blauen Periode im Zeichen eines sozialen Engagements des Malers für die Armen, Elenden und Entrechteten. Über die Bekanntschaft mit Louis Jullien, dem Arzt des Pariser Frauengefängnisses und Krankenhauses Saint-Lazare, besuchte Picasso den deprimierenden Ort und beobachtete die Frauen in den umliegenden Cafés, in denen sie die freien Stunden verbrachten. Die dunkeltonigen Farben und lastende Traurigkeit der Werke dieser Zeit entsprechen dem damals vorherrschenden Lebensgefühl Picassos, der durch den Selbstmord seines Malerfreundes Carlos Casagemas jäh aus dem anfänglichen Rausch des Pariser Lebens in eine harte Realität erwacht war. Der Bruch offenbart sich auch in seinem Schaffen mit dem Wechsel von farbintensiven expressionistischen Szenen des Pariser Nachlebens à la Toulouse-Lautrec zu düsteren Figurenbildern der blauen Periode. Während kurz zuvor eine heftige Pinselschrift den Szenen prickelndes Leben einhauchte, scheint sich in Werken wie der Buveuse d’absinthe jegliche Lebendigkeit in lastende Depressivität verwandelt zu haben. Die Absinthtrinkerin sitzt alleine, mit verschränkten Armen und leicht gebeugten Schultern an einem runden Bistrotisch. Ihr Blick ist ins Leere gerichtet. Auf dem blassen Gesicht sammelt sich Licht von ausserhalb des Bildes. Augen und Nase werden umspielt von blau-grünen Schatten. Neben der Sitzenden stehen auf dem runden Marmortisch ein Glas mit Absinth und eine Wasserflasche. Absinth war damals das Getränk der armen Leute, billiger als Wein, und wurde deshalb von vielen im Übermass konsumiert.

Provenienz

Galerie Justin Thannhauser, München
bis 1925 Galerie Bollag, Zürich
1925 erworben bei der Galerie Bollag, Zürich, von Karl Im Obersteg

Literatur

Zervos 1932/1978
Christian Zervos: Pablo Picasso. Catalogue raisonné des peintures et dessins, 33 Bde., Paris 1932-1978, Bd. 1, Nr. 100, Abb. 49 (Fille aux bras croisés)

Cassou 1940
Jean Cassou: Picasso. Les oeuvres, Paris: Hypérion, 1940, Abb. S. 40 (Fille aux bras croisés; La buveuse d'absinthe)

Erben 1947
Walter Erben: Picasso und die Schwermut, Heidelberg 1947, S. 14, Abb. S. 15

Cirici-Pellicer 1950
Alexandre Cirici-Pellicer: Picasso avant Picasso, Genf 1950, Abb. 124

Daix/Boudaille 1966
Pierre Daix und Georges Boudaille, Werkverzeichnis in Zusammenarbeit mit Joan Rosselet: Picasso 1900-1906. Catalogue raisonné de l'oeuvre peint, Neuchâtel: Ides et Calendes, 1966, S. 201, Nr. VI. 25, Abb.

Moravia 1968
Alberto Moravia: L'opera completa di Picasso blu e rosa, Apparati critici e filologici di Paolo Lecaldano (Reihe: Classici dell'Arte), Milano: Rizzoli 1968, Nr. 12, Abb.

Palau i Fabre 1981
Josep Palau i Fabre: Picasso. Kindheit und Jugend eines Genies 1881-1907, München: Prestel-Verlag, 1981, S. 536, Abb. S. 267 (Frau mit verschränkten Armen)

Baumgartner/von Tavel 1995
Michael Baumgartner und Hans Christoph von Tavel: Die Sammlung Karl und Jürg Im Obersteg, hrsg. von der Stiftung «Sammlung Karl und Jürg Im Obersteg», Bern, Bern: Benteli Verlag, 1995, S. 48-51, Nr. 7, Abb.

Ausstellungen

Bern 1975
Sammlung Im Obersteg, bearb. von Hugo Wagner, hrsg. von Kunstmuseum Bern, 25. Juni-14. Sept. 1975, Nr. 66, Abb.

Basel 1976
Picasso. Aus dem Museum of Modern Art New York und Schweizer Sammlungen, Kunstmuseum Basel, Basel 1976, S. 15, Nr. 1, Abb.

Bern 1984/1985
Der junge Picasso. Frühwerk und Blaue Periode, Kunstmuseum Bern, 8. Dez. 1984-17. Feb. 1985, bearb. von Glaesemer, Jürgen (Hrsg.) und Marilyn McCully (sachberatende Mitarbeit), Bern 1984, Nr. 129 b, Abb. S. 233

Luzern 1988
Von Matisse bis Picasso. Hommage an Siegfried Rosengart, Kunstmuseum Luzern, 19. Juni-11. Sept. 1988, hrsg. von Martin Kunz, Stuttgart: Verlag Gerd Hatje, 1988, S. 198, Nr. 53, Abb. S. 159

Bern 2001
Picasso und die Schweiz. Meisterwerke aus Schweizer Sammlungen, Kunstmuseum Bern, 5. Okt. 2001-6. Jan. 2002, Hrsg. Marc Fehlmann, Toni Stooss, Bern: Stämpfli, 2001, Nr. 9, Abb.

Wien 2003
Im Banne der Moderne: Picasso, Chagall, Jawlensky, BA-CA Kunstforum, Wien, 4. Sept.-30. Nov. 2003, Nr. 54

Basel 2004
Die Sammlung Im Obersteg im Kunstmuseum Basel. Picasso, Chagall, Jawlensky, Soutine, Kunstmuseum Basel, 14. Febr.-2. Mai 2004, hrsg. von der Stiftung Im Obersteg, Basel: Schwabe Verlag, 2004, Nr. 148

Basel 2013
Die Picassos sind da! Eine Retrospektive aus Basler Sammlungen, Ausst.-Kat. Kunstmuseum Basel, 17. März – 21. Juli 2013, kuratiert von Anita Haldemann und Nina Zimmer, mit Beiträgen von Anita Haldemann, Henriette Mentha, Christian Spies, Anne-Christine Strobel, Seraina Werthemann und Nina Zimmer, Ostfildern: Hatje Cantz, 2013, S. 26, 28, 74, Nr. 2, Abb. S. 61

London 2013
Becoming Picasso Paris 1901, Ausst.-Kat. The Courtauld Gallery, London, 14. Febr. – 26. Mai 2013, Hrsg. Barnaby Wright, London: Paul Holberton, 2013, S. 24, Abb. S. 25

Paris 2018/2019
Picasso. Bleu et rose, Ausst.-Kat. Musée d'Orsay, Paris, 18. Sept. 2018 – 6. Jan. 2019; Fondation Beyeler, Riehen, 3. Febr. – 26. Mai 2019, Hrsg. Annie Dufour, Paris: Éditions Hazan, 2018, S. 75, 355, Nr. 73, Abb. S. 109

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