Ernst Ludwig Kirchner
Seit Juni 2024 gehört Tanz im Varieté von Ernst Ludwig Kirchner (1880 –1938) zur Sammlung Im Obersteg. Fast ein Jahrhundert lang galt das Gemälde als verschollen; seine Existenz war nur durch Schwarz-Weiss-Fotografien belegt. Das Werk entstand 1911 als eines der letzten Werke in Dresden, bevor Kirchner in die deutsche Hauptstadt Berlin zog.
Kirchner malte hier den Cakewalk, einen Tanz, der ab 1900 in Europa populär wurde. Er entstand zu Zeiten der Sklaverei in den USA als Parodie auf die Tänze der Weissen Herrschaftskultur. Die Menstril-Shows in den Nordstaaten übernahmen den Tanz, bei denen Weisse Menschen in Blackface auftraten. Der Cakewalk wurde so zur Parodie der Afroamerikaner:innen, die ihn entwickelt hatten. Erst um die Jahrhundertwende durften Schwarze Tänzer:innen diesen Tanz selbst auf Theaterbühnen zeigen. Bald fanden Aufführungen in ganz Europa statt, und der Cakewalk fand seinen Weg auf Kirchners Leinwand in Tanz im Varieté.
Der Tanz, das Varieté und der Zirkus bilden einen bedeutenden Motivkreis in Kirchners Gesamtwerk. Kirchner suchte seine Inspiration im Leben, im Aufeinandertreffen von Menschen auf der Strasse oder eben im Varieté. Die bewegten Körper von Tänzer:innen wirken elegant, würdevoll und dienen als Projektionsflächen für die Mode ihrer Zeit. An diesen Körpern zeigt Kirchner die Hoffnungen und das Scheitern einer Gesellschaft im Wandel.
Das Werk wurde zuvor zweimal ausgestellt: 1912, ein Jahr nach seiner Entstehung, als Teil der ersten und letzten Gruppenausstellung der Künstlergruppe Brücke in Berlin, und 1923 in einer Kirchner gewidmeten Einzelausstellung im Kunstsalon Paul Cassirer. Danach gelangte es über die Sammlung Max Glaeser in den Besitz einer baden-württembergischen Familie.
Dort blieb das Werk bis zu seiner Wiederentdeckung 2024. Die prägnante Farbgebung war bis dato unbekannt. Mit dem Ankauf im Juni 2024 gelangt die Stiftung Im Obersteg in den Besitz eines Gemäldes aus der «besten Brücke-Zeit», das mit seinem Motiv am Zahn seiner Zeit nagt. In seiner Manie geht Tanz im Varieté Kirchners berühmten Berliner Strassenszenen voraus, die ab 1913 entstanden sind.