Chaïm Soutine

Russische beziehungsweise aus Russland stammende Künstler, die in Mittel- und Westeuropa wesentlich zur Kunstgeschichte der Moderne beigetragen haben, bilden einen Schwerpunkt in der Sammlung Im Obersteg. Neben Werken von Marc Chagall, Robert Genin, Alexej von Jawlensky, Wassily Kandinsky, Alexander Rodtschenko und Marianne von Werefkin finden sich herausragende Arbeiten von Chaïm Soutine, gebürtiger Russe, der von 1913 bis zu seinem Tod, 1943, mehrheitlich in Paris lebte und wirkte. Soutine zählte neben Chagall zu den prominentesten Vertretern der Ecole de Paris, Kunstschaffende, die in der ersten Dekade des 20. Jahrhunderts von ganz Europa nach Paris emigrierten und dort den Kern einer international ausstrahlenden Avantgarde bildeten. Soutines ausdrucksstarke Malerei wird dem französischen Expressionismus zugerechnet. Der Künstler ist Zeit seines Lebens ein Aussenseiter geblieben. Zuerst von der beissenden Armut des Schtetls gezeichnet, nach seinem künstlerischen Durchbruch immer noch von einer lähmenden Isolation und einem grundlegenden Misstrauen gegenüber allen Menschen geplagt, ist Soutines Werk unter menschlichen Extrembedingungen entstanden. Sein Schaffen thematisiert auf beklemmende Weise die existenzielle Einsamkeit und Isoliertheit des sozial minderbemittelten Menschen in unserer Gesellschaft. Karl Im Obersteg, der sich bereits während des Ersten Weltkriegs für deutsche Kriegsopfer eingesetzt hatte, konzentrierte sich auch später auf Künstler, die als gesellschaftliche und religiöse Aussenseiter, wie etwa Soutine, oder als Exilkünstler gelten. Die Werkgruppe Soutines der Sammlung Im Obersteg, bestehend aus sieben Gemälden, zeigt als thematischen Schwerpunkt das Menschenbild. Dazu gesellen sich ein Stillleben und das Bild eines toten Fasans. Die freie und radikale Malweise verbunden mit dem tief menschlichen Ausdruck seiner Modelle muss den Sammler bei Soutine besonders berührt haben. Im Oberstegs Faszination für die Farbe und ihren sichtbaren Auftrag auf der Leinwand, für das Spiel der Kontraste führte soweit, dass er in Ausstellungen einen postkartengrossen Passepartout bei sich trug, um Ausschnitte der Malerei genauer betrachten zu können.

Aufsatz Andreas Meier, PDF, 335 KB